Gespräch mit Florian Oeller (Drehbuch)
Der Tatverdächtige im Mordfall Hiller leidet unter einem Gedächtnisverlust. Was war für Sie als Autor reizvoll an diesem Krankheitsbild? Und wussten Sie von Anfang an, dass Sie die Geschichte so anlegen wollten?
Am Anfang stand das Bild eines Mannes, der sich durch die Fußgängerzone schleppt, ohne zu wissen, wer er ist oder woher er kommt – und eine Art von Musik hört, die ihn an etwas erinnert, das er selbst nicht klar greifen kann. Dieses Bild hat sich aus den Meldungen über den so genannten Piano-Man genährt. Das war ein Herr, der vor Jahren in einem schwarzen Anzug in einem Küstenstädtchen in Südengland aufgetaucht ist, nichts über sein eigenes Leben wusste, angeblich aber meisterhaft Klavier spielen konnte. Die musikalische Ebene bedient unser Tatverdächtiger auf andere Art auch, aber der Schlüsselreiz war ein anderer: Einen Menschen zu erzählen, der glaubhaft nicht sicher sein kann, ob er gemordet hat oder nicht – das fand ich spannend. Dieser Mann steht den Ermittlern gegenüber und ist verzweifelt, weil er keine Frage beantworten kann – weil er nicht mal weiß, wer er ist, geschweige denn, ob er’s war. Das war für mich eine reizvolle Variation eines für Krimi- Autoren manchmal recht ausgetretenen Pfades.
Für den Betroffenen ist es, wie wir erfahren, ein schrecklicher Zustand. Welche Recherchen haben Sie dazu angestellt?
Das klinische Bild der dissoziativen Fugue, wie sie hier thematisiert wird, tritt nur sehr selten auf. In Deutschland gab es meines Wissens in den letzten Jahren nur eine Handvoll dokumentierter Fälle. Entsprechend klein ist der Kreis der Experten, die direkt mit dem Krankheitsbild konfrontiert waren. Einige von ihnen standen mir dankenswerterweise beratend zur Seite. Mir wurde schnell klar, dass dieser Zustand schwer vorstellbar und grauenerregend zugleich ist. Stellen Sie sich vor, Sie haben keine Verbindung mehr zur eigenen Identität. Ihr "Ich" hat zwar nichts von den Fähigkeiten verloren, die Sie sich im Laufe eines Lebens angelernt haben, aber es hat keinen Anker, keine Biografie, keinen Bezugspunkt zu jener Welt, die Sie durch Ihre Augen sehen – diese Leere, dieses Schweben im Raum stellt für mich den Inbegriff von Horror dar. Die Ärztin im Film bringt es auf den entsprechenden Punkt: Ein Leben im Bewusstsein eines Mörders zu führen ist prinzipiell möglich, hingegen ist ein Leben ohne Bewusstsein nicht auszuhalten – es ist eben kein Leben.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?
Psychotherapeutische Maßnahmen im Sinne möglichst sanfter Konfrontationen mit dem eigenen Ich sollen dazu führen, dass sich die Betroffenen an ihre Identität erinnern. Therapieerfolge sind dabei aber nicht garantiert. Eine dissoziative Fugue kann, wie die Ärztin im Film sagt, sich in drei Minuten auflösen, über Jahre hinweg anhalten oder, im schlimmsten Fall, nicht enden. Die im Film benutzte Metapher mit der Festplatte, aus der sich das Kabel gelöst hat, wird übrigens tatsächlich landläufig gebraucht, um diesen Zustand zu metaphorisieren. Eine Fallschilderung hat mich in dieser Hinsicht besonders beeindruckt. Es ging um eine Patientin, die im Zustand des Identitätsverlusts verharren musste, bis sie sich durch eine zufällige Beobachtung an das verdrängte Trauma erinnern konnte, das die Fugue und damit ihre Amnesie ausgelöst hatte – 17 Jahre vorher.
Neben der eigentlichen Krimihandlung variieren Sie das Thema der gescheiterten Liebe. Nicht nur Bukow, auch Vivian und Thiesler stehen vor einem Scherbenhaufen. Pöschel erlebt ein Fiasko, und Max Schwarz’ Ehe ist nicht das, was sie zu sein scheint. Ist das die verbindende Klammer um die einzelnen Stränge der Geschichte?
Es hat sich beim Schreiben ergeben, dass dies der Krimi der verlassenen Männer wird, ja. Bukows gescheiterte Ehe spiegelt zeitlich versetzt das Ehedrama von Schwarz, Thieslers Hoffnungen auf eine Beziehung werden enttäuscht, Pöschel wird im Anlauf einer Liebesaffäre bitter ausgebremst. Aus der Geschichte heraus entstanden ist also ein Lonely Hearts Club. Die Frauen sind die eigentlichen Gewinner dieser Geschichte – allein schon deshalb, weil sie genau wissen, was sie wollen: Katrin König kämpft verbissen und schlussendlich erfolgreich gegen ihre ganz eigene Art von Trauma, Vivian Bukow trifft eine harte, aber selbstbewusste Entscheidung, Hillers Referentin pokert clever und mit hohen Einsätzen. Ein Ungleichgewicht, das mir in dieser Konstellation gefallen hat.
Sie wählen in diesem "Polizeiruf 110" ein Thema, das mit Rostocks Nähe zum Meer verknüpft ist: Offshore-Windparks und die damit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Interessen. Gab es dafür einen konkreten Anlass?
Nicht in dem Sinne, dass ein Windparkprojekt existiert, auf das sich dieser Film konkret bezieht. Der Realität entlehnt sind jedoch zwei andere, abstraktere Entwicklungen, die wichtig für den Kern der Geschichte und ihre Anbindung an Rostock waren: Zum einen sind Rostock und das Land Mecklenburg-Vorpommern bedingt durch die Energiewende tatsächlich dabei, im Bereich Offshore-Windkraft neue Potentiale für ein Wirtschaftswachstum abseits des Tourismussektors zu erschließen. Davon unabhängig lässt sich seit Jahren beobachten, dass in Deutschland große Infrastrukturprojekte wie der Flughafen Berlin-Brandenburg oder die Elbphilharmonie sich mehr als einmal durch Missmanagement und den daraus folgenden Planungsfehlern zu Milliardengräbern entwickelt haben. Die Verknüpfung der beiden Beobachtungen – der regionalen und der überregionalen – hat schließlich die Grundlage für diese Geschichte in Rostock gestiftet.
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