" ... wie eine Schraube, die sich langsam zudreht"
Ein Gespräch über die Jubiläums-Doppelfolge mit dem Regisseur Dominik Graf und der Regisseurin Pia Strietmann, dem Drehbuchautor Bernd Lange, dem Produzenten Michael Polle sowie den Redakteuren Frank Tönsmann und Stephanie Heckner.
Bereits in der Vergangenheit haben sich zu "Tatort"-Jubiläen Kommissar*innen getroffen, um über Reviergrenzen hinweg zu ermitteln. Zum 30-jährigen Jubiläum etwa die Kollegen vom MDR und WDR Peter Sodann (Hauptkommissar Ehrlicher)/ Bernd-Michael Lade (Hauptkommissar Kain) und Klaus J. Behrendt (Hauptkommissar Ballauf)/Dietmar Bär (Hauptkommissar Schenk). Und beim 1000. "Tatort" 2016 stiegen Maria Furtwängler (Hauptkommissarin Charlotte Lindholm) und Axel Milberg (Hauptkommissar Klaus Borowski) gemeinsam ins "Taxi nach Leipzig". Auch diesmal erstreckt sich die gemeinschaftliche Ermittlerarbeit über zwei Folgen. Was ist der besondere Reiz an solchen Kommissarsgipfeln? Und warum hat man sich in diesem Fall für das Dortmunder und Münchener Team entschieden?
Frank Tönsmann: Der Erfolg des "Tatort" hat untrennbar mit der regionalen Verortung zu tun. Zwei Regionen bzw. deren Vertreter nun in dieser Form aufeinanderprallen zu lassen hat etwas ganz Besonderes, weil es eben selten ist; nicht wie beispielsweise im Fußball. Man erlebt sozusagen eine Begegnung in Hin- und Rückspiel. Dass es Dortmund und München geworden sind, hat vor allem mit der Bereitschaft der beiden Redaktionen zu tun, sich dieser besonderen Situation aussetzen zu wollen.
Was ist das Besondere an der Erzählung der Doppelfolge zum Jubiläums-"Tatort: In der Familie" und wie kam das kreative Kernteam zusammen?
Stephanie Heckner: Dominik Graf stand als Wunschregisseur schon zu Beginn fest. Wichtig war es uns, für die zweite Regie jemanden zu gewinnen, der nicht nur mit Dominik Graf auf Augenhöhe arbeitet, sondern auch eine ganz eigene Handschrift mitbringt. Der Produzent Michael Polle und ich waren zu dem Zeitpunkt gerade mit Pia Strietmann und ihrem ersten "Tatort: Unklare Lage" in der Postproduktion. Dass sie uns zugesagt hat, war ein Riesenglück. Der Autor Bernd Lange, Dominik Graf und Pia Strietmann haben vom ersten Moment an Hand in Hand gedacht und gearbeitet. Es gibt ja vieles, was sich bei "In der Familie" horizontal verhält, Figuren und ihre Besetzungen, das Verhältnis der sich bis dato persönlich fremden Ermittler, die ganze Erzähllinie im Fall. Bei diesem hochkomplexen Gemeinschaftswerk, das auch noch unter Corona gebeutelten Umständen entstand, kamen schließlich zwei Filme heraus, die genau das sind, was uns von Anfang an vorschwebte: zwei eigenständige Wesen mit einem gemeinsamen starken Rückgrat. Die große Erzählung von "In der Familie" erlaubt sich Sprünge. Sie überrascht. Während sich der erste Teil in seiner Spannung bis zum Unerträglichen immer weiter zuschnürt, setzt der zweite komplett überraschend neu an und wirft eine Figur ins Zentrum, die einen emotional packt und bis zum Ende nicht mehr loslassen wird.
"In der Familie" handelt vom Kokainhandel der Mafia und Geldwäsche über ein italienisches Lokal. Ein Thema, das in der letzten Zeit etwas aus dem Fokus gerückt ist. Warum haben Sie sich für diesen Stoff entschieden? Und welche Aspekte und Blickwinkel haben Sie daran besonders gereizt?
Bernd Lange: Früh bei der Konzeption war klar, dass es einen Antagonismus geben muss, der stark genug ist, dass er so eine geballte Anzahl an Ermittlern vor große Schwierigkeiten stellt und der über die ganze Strecke von zwei Folgen trägt. Im Gespräch mit Michael Polle, Stephanie Heckner und Frank Tönsmann und der darauffolgenden Recherche bin ich auf die `Ndrangheta gestoßen. Mit Dominik Graf teile ich die Liebe zu den Klassikern des Genres, nun galt es darum, dies glaubhaft in Deutschland zu verorten. Mit einem konservativ geschätzten Jahresumsatz von 60 Milliarden kann man die kalabrische Mafia als Unternehmen zum Beispiel mit Siemens vergleichen, und das komplett im Schatten und außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Dies ins Licht zu holen und zu zeigen, wie die `Ndrangheta auch in Deutschland operiert, lag auf der Hand. Im zweiten Teil von Pia Strietmann sieht man sehr deutlich, dass es nicht allein um den Drogenhandel, sondern vor allem um das Weißwaschen der illegalen Einnahmen geht.
Dominik Graf, Sie haben eine große Palette an Filmen unterschiedlicher Genres inszeniert, darunter sind auch einige Krimis. Zudem stehen Sie immer für eine unkonventionelle und mutige Umsetzung der Stoffe. Was ist das Besondere an diesem "Tatort" und dem Drehbuch? Und worauf kam es Ihnen bei der filmischen Umsetzung besonders an?
Dominik Graf: Der Begriff "Krimi" klingt völlig uninteressant. Ich habe viele Polizeifilme gedreht, immer mit Begeisterung. Hier, im "Tatort: In der Familie", prallt eine weltweite, mafiöse Kraken-Struktur auf den oft hilflosen Kleinklein-Apparat unserer deutschen Kommissare. Wer wird gewinnen? Bernd Lange hat die Geschichte geschrieben wie eine Schraube, die sich langsam zudreht. Er hat quasi die Machtstrukturen der kalabrischen `Ndrangheta in einem Kammerspiel abgebildet. Und rundherum das verwüstete Ruhrgebiet, eine Schatten-Landschaft. Ein großes Drama, klein erzählt. So wollte ich es auch verfilmen.
Pia Strietmann, Sie haben in diesem Jahr bereits mit "Unklare Lage" einen aufsehenerregenden und ungewöhnlichen "Tatort" inszeniert. In einem Interview haben Sie gesagt, dass es Sie besonders gereizt habe, weil dieser Stoff kein klassischer "Tatort" gewesen sei. Auch der zweite Teil des Jubiläums-"Tatort" ist kein klassischer "Tatort" geworden. Worin sahen Sie die Herausforderung, in der Anknüpfung an Teil 1, der die Zuschauer*innen mit einem gewaltigen Cliffhanger zurücklässt?
Pia Strietmann: Dem Autor Bernd Lange ist es gelungen, für beide Drehbücher eine jeweils ganz andere erzählerische Konzentration zu finden. Im zweiten Teil ist es nicht mehr die Polizei, die im Mittelpunkt der Geschichte steht, sondern eine absolute Nebenfigur des ersten Teils – die von allem nichtsahnende minderjährige Tochter der Familie Modica. Mir war wichtig, auch inszenatorisch und stilistisch eine eigene Sprache, einen anderen Ausdruck suchen zu dürfen. Ich wollte keinen "klassischen zweiten Teil" machen, bei dem man versuchen sollte, die Handschrift des anderen zu verstehen und zu kopieren oder weiterzuführen. Es war eine große Herausforderung, sich das nach dem starken ersten Teil von Dominik Graf dann aber auch konsequent zu trauen.
Dominik Graf, Sie sind mit dem "Tatort" lange verbunden. Seit Ihrem ersten "Tatort" im Jahr 1986 ("Schwarzes Wochenende") haben Sie immer wieder für die ARD-Reihe gearbeitet. Wie sehen Sie die Entwicklung des "Tatort" in dieser Zeitspanne, sowohl inhaltlich, als auch filmisch? Stellen sich heute andere gesellschaftspolitische Themen als früher und wie hat sich das "Machen" der "Tatorte" im Laufe der Zeit verändert?
Dominik Graf: Die Dreharbeiten haben sich enorm beschleunigt. Der normale "Tatort" heute ist ein Low Budget Film. Gleichzeitig ist in den Bildern selbst heute ungleich mehr los als in den Anfangsjahren – wenn man mal von Sam Fullers Kölner Karneval in "Tote Taube" von 1973 absieht. Themenfilme sind immer in der Gefahr, leblos zu geraten, auch beim "Tatort“". Und tolle Teams sollten kontinuierlicher arbeiten, siehe Nina Kunzendorf und Joachim Król in Frankfurt.
Pia Strietman, bei Ihrer Regiearbeit fällt die eigenwillige Bildsprache in Kameraführung und -fahrten, Perspektiven, Schärfeeinstellungen, dem Spiel mit Licht und Schatten besonders auf. Was bedeutet diese sehr stark durchgearbeitete visuelle Inszenierung für Ihre Erzählweise und die Erzeugung von Spannung in dieser Episode?
Pia Strietmann: Ich las das Drehbuch als eine Tragödie, ein Requiem. Weder Vater noch Tochter haben in dieser Geschichte den Hauch einer Chance, einander nicht zu verlieren. Stilistisch haben wir auf der visuellen, aber auch auf der musikalischen Ebene diesen Tragödiengedanken aufgegriffen und oft entgegen der eigentlichen Szene, gegen einen "eigentlichen Tatort" gearbeitet. Wir haben uns auf die Tragik, die Ausweglosigkeit und die Emotion von Sofia und ihrem Vater Luca konzentriert und versucht, Bilder und Motive zu finden, die ihr Innenleben spiegeln und nicht nur einen äußeren, oft brutalen Vorgang beschreiben. Auch die Polizei hat in diesem "Tatort" eine etwas andere Rolle. Faber, Batic und Leitmayr haben im ersten Teil Scheiße gebaut und können hier fast nur zusehen, wie alles enden wird bzw. enden muss. Generell gefällt es mir, und darauf lege ich eigentlich bei allen Arbeiten sehr viel Wert, wenn ein Film eine deutliche visuelle Sprache sucht und findet. Für diesen "Tatort" sind der Kameramann Florian Emmerich und ich auf die Fotografien von Letizia Battaglia aufmerksam geworden, die jahrzehntelang die italienische Mafia fotografiert hat. Ihre Fotografien haben uns sehr für unsere eigene Arbeit inspiriert.
Welche produzentischen Herausforderungen ergaben sich aus der Tatsache, dass für "In der Familie" zwei Regisseur*innen an einem großen Werk gemeinsam gearbeitet haben?
Michael Polle: Zunächst war diese Konstellation keine Herausforderung, sondern ein klarer Wille und Wunsch für dieses Jubiläum. Der "Tatort" ist mit seinen vielen künstlerischen und inhaltlichen Facetten seit 50 Jahren immer wieder ein Garant für besondere Unterhaltung. Uns war es deshalb wichtig, dass wir bei diesem Projekt anhand einer durchgehenden Erzählung von Bernd Lange über das Schicksal einer Familie und die Geschichte der Kommissare auch verschiedene Blickwinkel, Stilistiken und Interpretationen einfangen können – so, wie es der "Tatort" seit jeher tut. Deswegen waren Dominik Graf und Pia Strietmann zusammen mit Bernd Lange ganz wichtige Bausteine in diesen Überlegungen, da sie alle für eine besondere und mutige Art der Erzählung auch im Genre stehen, während sie eben dieses nie aus dem Fokus verlieren. Die Regisseure hatten bei ihren Filmen eine große Freiheit, ihre Interpretation auf Basis des Buches zu inszenieren; wir wollten ihre Handschrift auf keinen Fall verlieren. Dennoch haben sich beide zum Beispiel in Besetzungsfragen vorher ausgetauscht, da viele der Rollen durchgängig waren. Für mich sind auf diese Art zwei sehr unterschiedliche und facettenreiche Filme entstanden, die die ganze Bandbreite des "Tatort" als Krimi, Milieustudie, Drama und spannende Unterhaltung hoffentlich auch für die Zuschauer*innen widerspiegeln.
Wenn man als Autor eine "Tatort"-Folge übernimmt, muss man sich an die vorgegebenen Ermittler-Persönlichkeiten, das Gefüge und Umfeld, in dem sie arbeiten, aber auch an die Geschichten, die in den vorigen Episoden über sie erzählt wurden, halten. Zum anderen gibt es einen Handlungsort, meist eine Stadt/Region, und eine bestimmte Mentalität und Tonalität, die den Rahmen abstecken. Ist das eher Einengung oder Inspiration für Sie?
Bernd Lange: Eine Inspiration! Ich habe mich gefreut, mit Figuren arbeiten zu können, die bereits eine Geschichte haben. Leitmayr und Batic begleiten mich seit meiner Jugend; die Dortmunder haben in kurzer Zeit eine Menge an "Backstory" erlebt. Das macht die Figuren grundsätzlich reich. Und alle werden von besonderen Schauspieler*innen dargestellt. So sehr ich mich geehrt fühle, für das Jubiläum des "Tatort" eine Geschichte schreiben zu dürfen, stand für mich im Vordergrund, dass es vor allem ein Drehbuch sein muss, das der doppelten Länge an Erzählzeit gerecht wird.
Mitten in die Produktion der Jubiläums-Doppelfolge fiel die Corona-Krise. Trotzdem war eigentlich von Beginn an allen klar: Der Jubiläums-"Tatort" darf dem Virus auf keinen Fall zum Opfer fallen. Da standen Sie sicher mächtig unter Druck. Wie haben Sie es geschafft, diese Mammutaufgabe trotz aller Hindernisse zu einem erfolgreichen Ende zu bringen?
Michael Polle: Da muss ich wiedersprechen. Leider war in der Phase des beginnenden, fast vollständigen Lockdowns für niemanden wirklich klar, wie es weitergehen wird. X Filme war als Unternehmen bei drei Produktionen von einem Abbruch betroffen, bei "In der Familie" waren noch ca. zwei Drittel des Drehs von Teil II in München offen. Hinzu kam noch der Dreh des Auftakts von Teil I, der ebenfalls in München spielt und zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Kasten war. Wäre eine Wiederaufnahme der Dreharbeiten für die Kolleg*innen vor und hinter der Kamera unsicher gewesen, hätten wir als Produktion den Dreh nicht wieder aufgenommen und hätten nicht rechtzeitig liefern können.
Wie verlief die Produktion dann unter Corona-Bedingungen?
Michael Polle: Der Ablauf der Ereignisse war komplex. Zunächst mussten wir den Dreh nach einem Krankheitsfall im Team, der nichts mit Corona zu tun hatte, unterbrechen. Wegen Corona wurden dann am 23. März alle Drehgenehmigungen im öffentlichen Raum von der Stadt München eingezogen. Im Anschluss gab es jeden Tag neue Informationen, neue Regeln und viel Unsicherheit. So musste beispielsweise geklärt werden, welche arbeitsrechtlichen Folgen sich für alle Mitarbeiter*innen im Team aus dieser neuen Situation ergeben. Schlussendlich wurde auch hier die Kurzarbeit als Instrument für die Kolleg*innen gewählt, die durch eine Tarifeinigung zwischen Gewerkschaften und Produzentenallianz geregelt wurde. Parallel bestand die Aufgabe, in Abstimmung mit allen Kolleg*innen hier im Unternehmen sowie externen Beratern ein Verfahren zu entwickeln, wie wir sicher und ohne zu viele inhaltliche Einschnitte wieder an die Drehorte zurückkehren konnten.
Außerdem mussten wir in Abstimmung mit den lokalen Behörden klären, ab wann Dreharbeiten überhaupt wieder vor Ort möglich waren, zumal sich die Regelungen für Dreharbeiten in den verschiedenen Bundesländern teilweise deutlich unterschieden haben. Bei den Dreharbeiten, die ab Mitte Juni wieder aufgenommen wurden, konnten wir glücklicherweise bis auf wenige Ausnahmen auf unser ursprüngliches Team zurückgreifen, welches sich dem Projekt mit voller Leidenschaft und Hingabe verschrieben hatte. Wir haben neben strikten Regeln und einem umfangreichen Hygienekonzept auf ein hohes Maß an kontrollierter Eigenverantwortung bei jedem einzelnen gesetzt, was Maskenpflicht, Abstand, Handhygiene, Transport etc. anging. Hinzu kam die Erfüllung der öffentlichen Auflagen für Dreharbeiten und eine Vielzahl von Testreihen, die für die Darsteller*innen und Teile des Teams durchgeführt wurden. Außerdem haben wir wenige, kritische Teile des Buches überarbeitet, um beispielsweise Autofahrten und andere Szenen, bei denen dauerhafte Abstandsregeln unterschritten wurden, auf ein Minimum zu reduzieren. Nach Ansicht des Films bin ich heute sehr froh, dass vieles davon nicht zu sehen oder zu spüren ist. Dies ist der Lohn der Arbeit von vielen Menschen, die in diesen Prozess involviert waren.
Was war in der Entscheidungsfindung für einen Jubiläumsstoff der Initialmoment für "In der Familie"?
Stephanie Heckner: Das war der Moment, als Bernd Lange im 14. Stockwerk des Münchner Funkhauses seinen schwarzen Füller aufschraubte und sich Notizen machte, während er uns seine Idee skizzierte. Was wäre, wenn eine Ehefrau in einer deutschitalienischen Familie, die für die `Ndrangheta arbeitet, aussteigen will? Wenn diese Ehefrau auch Mutter ist und die Tochter nichts davon weiß, wie die Familie ihr Geld verdient? Der emotionale Kern des Epos lag da schon auf dem Tisch, neben Butterbrezen und Filterkaffee, als Corona noch kein Begriff war – in Bernd Langes allerersten handschriftlichen Notizen.
Ein Jubiläums-"Tatort" hat immer eine herausgehobene Stellung – schon weil ihm eine noch größere Aufmerksamkeit zu Teil wird. Worin liegt das Richtungsweisende dieser Jubiläums-Doppelfolge?
Frank Tönsmann: Der Dortmunder "Tatort" fokussiert üblicherweise ja sehr stark auf die vier ermittelnden Kommissar*innen. Die Erweiterung auf zwei Folgen gibt uns nun Raum, auch die Geschichte der Opfer, Täter und Verdächtigen gründlicher zu erzählen. Nur so konnte man meines Erachtens eine Geschichte über die Mafia erzählen, die von den üblichen Romantisierungen oder Verteufelungen, all den Klischeebildern, wegkommt. Dass die Handlung trotzdem einen epischen Charakter bekommen hat, dessen emotionale Wurzeln man zudem ständig spürt, ist ein zusätzlicher Effekt der zweigeteilten Erzählform.
Dominik Graf und Pia Strietmann, Sie beide stehen für mutige und eigenwillige Inszenierungen von Stoffen mit eigener unverkennbarer Handschrift. Und zugleich zeigt die Jubiläums-Doppelfolge von Ihnen beiden, wofür der "Tatort" auch steht: für seine integrative Kraft in jeder Beziehung. Der "Tatort" ist ein Generationenprojekt. Wenn Sie nun beide eine Idee, eine Vision für die Reihe beschreiben sollten, wohin sich diese ästhetisch, inhaltlich und konzeptionell in den nächsten zehn Jahren entwickeln sollte, was würde Ihnen da besonders am Herzen liegen?
Dominik Graf: Der Polizeifilm sollte in einer auseinanderbrechenden Gesellschaft nicht die Funktion der Bestätigung des Etablierten einnehmen, sondern eher die subversive Antithese. Der Polizeifilm ist das wuchtigste Film-Genre, das realste und fantastischste gleichzeitig. Die Debatte um die sogenannten experimentellen "Tatorte" wird man dringend weiterführen müssen, denn da geht es um den zentralen Kulturbegriff des Fernsehens. Form ist beim Thriller der eigentliche Inhalt. Wie viel echtes Leben selbst ist denn noch in den Filmen? Sind wir nur noch Diener von Formaten, inszenieren wir nur Dialoge aus der Retorte, mit aufoktroyierten gesellschaftlichen Agenden? Das werden die Fragen der Zukunft sein.
Pia Strietmann: Der Reiz der Reihe liegt natürlich darin, dass es keine einheitliche Vision geben kann und geben soll. Jede Stadt, jedes Ermittlerteam, jeder Redakteur, Produzent, Autor und Regisseur prägt unweigerlich den Stil. Ich fände es wichtig, dass die unterschiedlichsten Filmemacher in dieser etablierten Reihe auch "machen" – und "machen dürfen". Ob jung, ob erfahren, oder beides, ganz egal. Hauptsache, man holt die Geschichten, die Filmemacher*innen und die Zuschauer*innen öfter aus ihrer Komfortzone raus und überrascht. Diese Chance und Verpflichtung hat der "Tatort" mit seiner zuverlässig hohen Zuschauer*innenzahl. Aber die Reihe muss allen Strömungen offen begegnen und sich auch mutig weiterentwickeln dürfen.
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