Prof. Dr. Rafael Behr ist Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie
Prof. Dr. Rafael Behr
Prof. Dr. Rafael Behr ist Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg. Er stand der Produktion als Fachberater zur Seite.
Die Geschichte, die der „Tatort“ erzählt, hat einen wahren Hintergrund. Die Hamburger Polizei hat über Jahre die linke Szene um das autonome Zentrum Rote Flora ausspioniert. 2015 flogen mit Maria B. und Iris P. zwei Polizistinnen auf. Zeichnet der Film ein realistisches Bild der verdeckten Ermittlungen?
Ich erkenne im „Tatort“ viel polizeiliche Realität und viel Wahrheit. Der Film thematisiert eine der größten Paradoxien der Polizeiarbeit: Die Polizei darf Gewalt anwenden, um Gewalt zu verhindern. Bei verdeckten Ermittlungen werden Menschen dazu ermächtigt, dasselbe zu tun wie diejenigen, gegen die polizeilich vorgegangen wird, in der Absicht, das Gute zu befördern. Damit begibt sich die Polizei in eine moralische Grauzone: Verdeckte Ermittler sollen ihren Lebenslauf fälschen, ihre Mitmenschen belügen, in die Privatsphären ihrer Adressaten eindringen, und sie begehen nötigenfalls sogar Straftaten, um sich authentisch in der Szene bewegen zu können, so wie Kommissarin Julia Grosz im „Tatort“, die gleich zu Beginn einen Joint raucht, was Beamten normalerweise nicht erlaubt ist. Viele Polizisten lehnen solche Einsätze kategorisch ab. Aber einige sagen: Ich will das, und ich kann das! Mehr als andere verfügen sie über die Fähigkeit zur nachahmenden Übernahme von Rollenbildern und zur symbiotischen Anpassung an die andere Seite.
Was hat diese jungen Polizistinnen damals angetrieben, den Job zu übernehmen?
Da beide zu ihren Einsätzen schweigen, kann ich nur Vermutungen anstellen. Es gibt eine Lust daran, genau das Gegenteil von dem zu tun, wofür man seinen Diensteid geleistet hat, Szenen ausspionieren, Leute aushorchen, Dinge tun, die sonst verpönt und amoralisch sind. Bei verdeckten Ermittlungen im Rotlichtmilieu erleben wir auch immer wieder, dass Polizisten von der Gegenseite fasziniert sind. Sie fühlen sich vom Gegenstand ihrer Arbeit angezogen. Es kommt zur Annäherung der Lebenswelten, nicht vollends, sondern in einer Dosierung, die sich gerade noch rechtfertigen lässt. Einige gehen in dieselbe Muckibude wie die Zuhälter, andere flüstern Razzien in die Rockerszene hinein. Es ist eine legalisierte Form des Übertritts in die andere Welt, worüber sich bei der Polizei nur ganz schwer reden lässt.
Wer hat die Undercover-Einsätze in der Roten Flora beauftragt und mit welcher Begründung?
Im Fall von Maria B. und Iris P. ist bis heute nicht klar, in welchem Umfang sie für den Verfassungsschutz oder für die Polizei gearbeitet haben. Wer gab das rechtliche Okay? An wen gingen die Informationen? Wenn der Verfassungsschutz eine Observierung fordert, dann übernehmen für gewöhnlich seine eigenen Agenten den Auftrag, da Polizisten dem Legalitätsprinzip unterstehen. Und die Bundesanwaltschaft bedient sich bei der Infiltration der Beamten des BKA. Beide Stellen begründen die Maßnahmen in der Regel mit der Abwehr politisch motivierter Straftaten. Offenbar hat es dazu ein Partialinteresse der Hamburger Polizei gegeben, die Tiefenstrukturen der Roten Flora als vermeintlicher Terrorzelle zu erhellen. So tief ist man aber nie vorgedrungen, wie Hamburgs Polizeipräsident auch zugeben musste. Man wollte an die Hintermänner heran, griff aber nur die Leute in der vordersten Linie ab, um die Szene insgesamt zu verunsichern und aufzumischen.
Sind die Einsätze völlig unverhältnismäßig gewesen?
Die verdeckten Ermittler haben ja nicht in der Drogenmafia operiert, wo böse Männer schlimme Sachen machen, sondern sie sind in eine juvenile Szene eingedrungen, wo Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität sind. Auch nach ihrer linken Identität. Das ist meine große Kritik an der Polizeiführung. Ich finde es empörend, dass man Frauen wie Maria B. oder Iris P. dazu benutzt hat, nicht um die RAF-Nachfolge aufzudecken, sondern um andere Lebenswelten auszuspionieren, in der Annahme, die Szene sei kriminell durchsetzt.
Die Polizistinnen führten Liebesbeziehungen mit Aktivisten. Haben sich die Frauen in der linken Szene verloren?
Es ist unentschieden, ob deren sexuelle Avancen instrumenteller Natur oder authentisch waren. Diese Frage wird auch im Film offengelassen. Bei einer verdeckten Ermittlung können Dinge geschehen, die bürokratisch oder juristisch nicht zu steuern sind. Sich verlieben zum Beispiel, was ja in keiner Weise strafbar ist. Können wir es einer Polizistin verdenken, dass sie sich in ihrer Rolle noch menschlich verhält? Oder müssen wir davon ausgehen, dass alles berufsrollenmäßig durchgetaktet war und sogar Liebe vorgetäuscht wurde? Das ist der tragische Moment dabei. Wie beim sexuellen Missbrauch liegt die Beweislast auch hier bei den Opfern. Sie müssen beweisen, dass wahr ist, was ihnen widerfahren ist. Dass sie missbraucht wurden, um an Informationen zu gelangen. Die Polizistinnen können sich immer auf die Position zurückziehen: Die lügt, die spinnt, alles war einvernehmlich. Umgekehrt ist es für die Polizei eine Katastrophe, wenn sich eine Ermittlerin in eine Person verliebt, auf die sie angesetzt ist. Die ist „gekippt“, heißt es dann bei der Polizei. Die hat „die Balance verloren“. So wie ein Ermittler im Drogenmilieu, der irgendwann selber dealt. Davon kann bei Maria B. und Iris P. aber nicht die Rede sein. Sie wurden nach einer Abkühlungsphase wieder in den regulären Polizeidienst übernommen.
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