So., 13.02.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Niederlande: Wo ist die offene und tolerante Gesellschaft?
Verrucht, sexy, anziehend – es ist das bekannteste Rotlichtviertel der Welt: De Wallen in Amsterdam. Seit Hunderten von Jahren ist es Anziehungspunkt für bezahlten Sex ohne Tabus. Alles kann, nichts muss. "Ich werde oft gefragt: Wie viele Ehen haben Sie schon gebrochen? Die Frage ist eher: Wie viele habe ich schon gerettet?" Brenda ist eine von geschätzt 7.000 Sexarbeiterinnen, die in den berühmten Fenstern ihre Dienstleistungen anbieten: 50 Euro für 15 Minuten. Sonderwünsche oder spezielle Praktiken kosten extra. Seit neun Jahren arbeitet Brenda als Sexarbeiterin. Sie ist eigentlich gelernte Krankenschwester.
Die Frauen gehören fest zum Amsterdamer Stadtbild. Millionen Touristen kommen jedes Jahr, nur um einen Blick auf sie zu erhaschen. "Das Bild, das die meisten Menschen von der Sexarbeit haben, ist, dass sie elend ist und die Mädchen dazu gezwungen werden und dass wir alle Opfer sind die gerettet werden müssen. Diese Sichtweise ist wirklich demütigend. Wir Frauen hier erleben das nicht so. Aber uns wird oft nicht zugehört", sagt Bernda.
Sexarbeiterinnen arbeiten selbstständig ohne Zuhälter
Im Gegensatz zu anderen Orten – an denen Prostitution häufig mit Zwang und Ausbeutung zu tun hat – arbeiten die Sexarbeiterinnen hier alle selbstständig ohne Zuhälter, mieten sich ihre Fensterplätze selbst. "Man entscheidet selbst, wen man reinlässt. Man spricht mit den Kunden durch einen Spalt im Fenster oder der Tür und wenn er nach viel Schnaps riecht, oder ungewaschen ist, lässt du ihn einfach nicht rein und sagst: Geh Dich waschen!"
Doch die Stadt will der öffentlichen Fleischbeschau nun einen Riegel vorschieben, begründet das mit der Sorge um die Sicherheit der Frauen. Ein Vorwand, findet Brenda: "In jedem Zimmer gibt es eine Alarmanlage. Eine Sirene und einen stillen Alarm. Das ist sehr sicher hier." Die Frauen kämpfen für ihr Bleiberecht. Es geht ihnen auch um Sichtbarkeit – darum nicht ins gesellschaftliche Abseits gedrängt zu werden.
Schlichte Nacktheit im Schulfernsehen löst Empörung aus
Wie sich das anfühlt, hat Schauspielerin Sher am eigenen Leib erfahren. Die 31-Jährige hat eine Welle der Empörung losgetreten: Sie zeigte sich zusammen mit anderen nackt im Schul-Fernsehen. Es ging nicht um Sex, sondern sollte helfen Fragen zum Körper offen anzusprechen. "Die Reaktionen haben mich extrem schockiert. Wir sollten weggesperrt werden, das sei nicht gesund. Wir sollten uns schämen! Wir seien alle pädophil! Ich kann das nicht begreifen."
Das Schulfernsehprogramm "Einfach nackt" ist eine achtteilige Serie und rührte dann offensichtlich doch an einem Tabu: Je fünf Erwachsene beantworten gecasteten Schülerinnen und Schülern Fragen zu verschiedenen Körperteilen – und sind dabei natürlich nackt. "In dem Moment, als wir die Bademäntel ausgezogen haben, waren die Reaktionen ganz unterschiedlich: Ein Kind ist ganz still geworden, eines musste kichern, und eines sagte: Ich finde es ein bisschen ungewohnt."
Fast alle Jugendlichen in den Niederlanden nutzen täglich soziale Medien, mehr Mädchen als Jungs. Und mehr als fünf Prozent sind online schon gemobbt worden. Dabei geht es vor allem um das Aussehen. "Wenn wir die Kinder Social Media überlassen, entstehen völlig falsche Vorstellungen. Dann sehen sie dünne Frauen mit 40 Kilo und denken, so muss ich auch aussehen. Bodyshaming ist so eine große Sache geworden", sagt Schauspielerin Sher.
Und schlichte Nacktheit offenbar auch. Eine christliche Partei organisierte eine Petition mit 150.000 Unterschriften, weil sie fanden, dass Erwachsene sich nicht nackt im Schulfernsehen zeigen sollten. In den sonst so liberalen Niederlanden ein gesellschaftlicher Rückschritt. Sher ist sogar vor ihrer Wohnung abgefangen und bedroht worden. Heute sagt sie: Sie sei zwar mit sich im Reinen – aber nackt vorsichtshalber nur noch privat.
Amsterdam will Sexarbeiterinnen im Zentrum loswerden
Auch Brenda trennt privates und öffentliches Leben strikt. Die Niederländer pflegen ihr weltoffenes Image gerne, doch der schöne Schein trügt, kritisiert Brenda: "Früher waren wir viel entspannter im Umgang. Da waren wir auch oben ohne am Strand. Und jetzt: undenkbar. Dabei war das früher normal. Die Niederlande waren immer tolerant, fortschriftlich und liberal. Aber das ist es nicht mehr!" Das merkt sie auch daran, dass die Stadt die Sexarbeiterinnen loswerden will. Erst hat sie Führungen durch das Viertel verboten, "jetzt soll ein Erotikzentrum gebaut werden, vor den Toren der Stadt, weit draußen. Sie sagen, dort wäre es sicherer für uns. Von wegen. Eigentlich geht es nicht um das Wohlergehen der Frauen. Es gibt andere Gründe: Wenn man sich andere Bezirke von Amsterdam ansieht, die schon bis zur Unkenntlichkeit gentrifiziert sind, merkt man schnell, dass es um andere Interessen geht: um Investoren und Immobilien."
Die Zeiten, in denen in den Niederlanden jeder nach seiner Facon glücklich werden konnte, scheinen vorbei. Das europäische Mekka für Liberalität und Toleranz. - Es ist zwar immer noch ein Land voller Freiheiten, aber bei weitem nicht mehr ohne Tabus.
Der Weltspiegel berichtet im Rahmen der ARD-Mediatheks-Serie "Liebe, Sex, Tabu".
Autorin: Gudrun Engel, ARD-Studio Brüssel
Stand: 13.02.2022 20:00 Uhr
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