So., 20.09.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Israel: Wer profitiert von der Annäherungspolitik?
Israels Premierminister Netanjahu hat in Washington feierlich das Abkommen mit den Emiraten und Bahrain unterschrieben, aber in seinem Land wird er dafür nicht groß gefeiert.
Auf der Autobahnbrücke bei Ashdod: Ofer Barshem und sein Sohn haben bereits Routine beim Aufhängen der Banner. Sie organisieren seit Wochen Demonstrationen, das Abkommen spielt hier keine große Rolle, sie kritisieren Premier Netanjahu. "Es kann doch nicht sein, dass ein Land wie Israel, eine moderne Start-Up-Nation, das biblische Land, Vorreiter in vieler Hinsicht, dass dieser Staat einen korrupten Premierminister hat", sagt Ofer Barshem.
Es ist der Tag vor dem zweiten Corona-Lockdown. Das autofahrende Publikum unterstützt den Protest laut hupend. Gerade ist Netanjahu aus Washington zurückgekommen, ist stolz auf den Friedensvertrag mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain. "Als ob wir keine anderen Probleme hätten“, sagt Demonstrantin Hagit Porat. Das Corona-Missmanagement, die katastrophale wirtschaftliche Situation. "Das Gefühl ist, die Leute in der Knesseth kümmern sich nicht mehr um das Volk, nur um sich selbst." Und Mit-Protestler Gary Schaffer ergänzt: "Wir waren doch nie im Krieg mit diesen Ländern! Wie kann das ein Friedensvertrag sein? Das ist ein Abkommen, um Business zu machen. Unser eigentliches Problem ist, dass hier vier Millionen Palästinenser leben. Mit denen müssen wir einen Friedensvertrag schließen!"
Palästinenser fühlen sich verraten
Ramallah, der Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde, ist nur 40 Kilometer Luftlinie entfernt. Auch hier wurde in den letzten Tagen demonstriert. Die Palästinenser fühlen sich von den arabischen Brüdern und Schwestern verraten, weil die mit dem Friedensabkommen den Boykott Israels aufgegeben haben. Ohne die bisher zentrale Bedingung einzufordern: das Ende der israelischen Besatzung. "Wir haben uns doch immer auf die Einigkeit der arabischen Länder verlassen, die für einen arabischen, islamischen Staat Palästina mit Jerusalem als Hauptstadt einstehen", sagt Hanan Al Scheibi. Solange sich die Palästinenser von Verhandlungen ausgeschlossen fühlen – so die Botschaft aus Ramallah – wird es auch keinen wahren Frieden für die israelischen Nachbarn geben.
"Netanjahu ist sehr gut darin, sich und seine Interessen abzusichern"
Für die hat gerade der zweite Corona-Lockdown begonnen. Zurück zum Organisator der Brücken-Demonstrationen, Ofer Barshem, und seiner Familie. Die 17-jährige Tochter übt mit ihrer Freundin Capoeira, einen brasilianischen Tanz. Jede Ablenkung ist willkommen, denn die Schule fällt für mindestens drei Wochen aus. Ihr Garten, das Haus in ihrem Dorf bei Ashdod ist paradiesisch – eigentlich: "Wir wohnen nur 40 oder 45 Kilometer von Gaza entfernt", sagt Mutter Adi Barshem. Ihre Kinder sind wie alle hier in der Gegend mit Raketenalarm großgeworden, weil die Hamas aus Gaza regelmäßig auf israelisches Gebiet feuert. "Zur gleichen Zeit, als Netanjahu im schönen Hof des Weißen Hauses war, sind wieder ein paar Raketen aus Gaza ganz in der Nähe eingeschlagen. Eine hat ein Gebäude in Ashdod getroffen und einen Mann schwer verletzt", sagt Ofer Barshem.
So feiern sie das jüdische Neujahrfest dem Krieg näher als dem Frieden – im Lockdown. Der nicht nötig gewesen wäre, meint Ofer. Die Regierung habe beim Umgang mit der Pandemie versagt. Jetzt schlittere das Land in eine wirtschaftliche Katastrophe. "Netanjahu ist sehr gut darin, sich und seine Interessen abzusichern. Und die seiner Leute. Und uns lacht er aus." Sie werden jedenfalls weiter gegen die Regierung auf die Straße gehen. Demos sind trotz Corona-Ausgangssperre erlaubt.
Autorin: Susanne Glass, ARD Tel Aviv
Stand: 21.09.2020 14:56 Uhr
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