So., 17.11.24 | 23:40 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Sachbuch
Und jetzt aus unendlichen Bücherhallen des virtuellen Studios in der Heiligen Stadt Köln, die aktuelle "Spiegel"-Bestsellerliste Sachbuch:
Platz 10) Ilko-Sascha Kowalczuk "Freiheitsschock"
Eine Polemik gegen ostdeutsche Demokratieverächter, denen der wilhelminische Kadavergehorsam tiefer in den Knochen sitzt, als sie wahrhaben wollen. "Wir haben im Osten eine autoritäre Tradition, die über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR fortwirkte. Wenn Dirk Oschmann … sagt, der Westen habe den Osten erfunden, dann muss man ihm entgegenhalten: Der Osten hat sich … auch seinen eigenen Westen konstruiert." Als Korrektiv zur grassierenden identitätspolitischen Ostalgie ist Kowalczuks Buch sicher berechtigt. Aber es wimmelt von Stilblüten, etwa wenn ein "Dreiklang zum Tragen" kommt, ist zu wirr konzipiert und vor allem zu schlecht geschrieben, um als Sachbuch befriedigen zu können.
9) Thomas Gottschalk: "Ungefiltert"
Thomas Gottschalk beweist, dass man nicht blöd sein darf, um sein Publikum für dumm zu verkaufen. Sein drittes Buch überrascht durch ein ungeahntes Reflexionsniveau: "Es ist eine Frage des Charakters und der Erziehung, zu einem gewissen Grad auch der sozialen Umwelt, ob sich ein Mann zu einem Kotzbrocken entwickelt, was seinen Umgang mit Frauen betrifft, oder ob er auf einer sich verändernden Werteskala auch zu einer anderen Zeit den richtigen Platz findet", so Gottschalk. Und weiter: "In meinem Falle hat man mich ja zum peinlichen Urvater des Herrenwitzes … und des öffentlichen Antatschens gemacht …" Hier irrt Gottschalk. Hierzu wurde Thomas Gottschalk nicht gemacht, hierzu hat er sich selbst gemacht. Trotz einiger selbstkritischer Erkenntnisse bleiben die Einsichten dieses "Früher war mehr Lametta"-Buchs überschaubar.
8) Campino: "Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer"
Sicher gibt es profundere Gedichtinterpretationen. Aber richtig gut sind Campinos Poetikvorlesungen immer dann, wenn er von der Geburtsstunde des deutschen Punks in Düsseldorf und seine Initiation durch Kunstwerke von Martin Kippenberger wie "Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken" erzählt. Auch den zweiten Teil mit Campinos Überlegungen zu den Auswirkungen der asozialen Medien und KI habe ich mit Interesse gelesen.
7) Rolf Dobelli: "Die Not-to-Do-Liste"
Ein kluger Ratgeber darüber, wie man sich zuverlässig sein Leben versauen kann. Dobelli zitiert Jen-Hsun Huang, den Gründer des Chip-Herstellers NVIDIA, der in einer Rede vor Studenten einmal sagte: "Ich hoffe, dass Ihnen Leid widerfährt! Großartigkeit kommt nicht von Intelligenz. Großartigkeit kommt von Charakter. Und Charakter entsteht durch Leiden." Weise Worte.
6) Axel Hacke: "Aua!: Die Geschichte meines Körpers"
Sprachlosen eine Stimme zu verleihen ist eine der edelsten Aufgaben der Literatur. Axel Hacke gelingt dies etwa, wenn er erzählt, wie der pubertierende Hacke seinen Spitznamen "Pummelchen" loswurde: "Wurst ist Geschichte. Aus mir ist ein Gemüsemann geworden. Aber ist es nicht unglaublich, dass mich im Moment, in dem ich dies hinschreibe, ja, genau jetzt, ein ungeheurer Appetit auf ein Leberwurstbrot überkommt (…) und mich quasi zu einem Metzgersklaven macht (…) Heute Abend! ruft die Wurst. Kauf mich! ruft sie. Schau mich an! Riech an mir! Verstreich mich! Iss mich! Du willst es doch auch!" Axel Hackes neues Buch ist wieder ein eindrücklicher Beleg der Erkenntnis, die besten Geschichten werden über den Körper erzählt.
5) Yuval Noah Harari: "Nexus"
Harari spricht in seinem neuen Buch eine eindringliche Warnung aus: Nationalsozialismus, Stalinismus und organisierte Religionen haben eines gemeinsam – sie sind auf Wahnvorstellungen gründende totalitäre Netzwerke. Und das, so Harari, teilen sie mit der KI-Revolution, die, Zitat, "die Form von Armeen, Religionen, Märkten und Nationen verändern" werden. Ein kluges Menetekel.
4) Anne Applebaum: "Die Achse der Autokraten"
"Moderne Autokraten unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von ihren Vorbildern des 20. Jahrhunderts", schreibt die diesjährige Friedenspreisträgerin Anne Applebaum über die Herrscher von Staaten wie Venezuela, Belarus, Russland, China, Syrien, Iran, Myanmar, Kuba und ihrem feigen Helfershelfer der Türkei. "Doch auch sie haben – bei allen ideologischen Differenzen – einen gemeinsamen Feind. Dieser Feind sind wir." Und deshalb, so Appelbaums plausibles Fazit, ist es an der Zeit, daß wir liberale Demokraten aufrüsten und eine Gegenachse bilden.
3) Elke Heidenreich: "Altern"
Ein zitatenreicher, aber erkenntnisarmer Essay, in der Konstruktion mehr wolkig als luftig, in der Argumentation eher sprunghaft denn stringent, stilistisch und gedanklich flach und banal. Unterm Strich ein alter Hut.
2) Hape Kerkeling: "Gebt mir etwas Zeit"
Eine DNA-Genanalyse nimmt Kerkeling zum Anlass, autobiographische Schnurren über seine zeitlich mal näheren, mal entfernteren Vorfahren zu erzählen. Profund wird es, wenn er über sein Leben vor dem Coming out-schreibt: "Ständig verleugnen zu müssen, wer man ist und wem man gehört, frisst einen seelisch und körperlich auf und belastet selbstverständlich auch die Beziehung."
1) Alexej Nawalny: "Patriot"
Manches an dieser nach dem Giftanschlag von 2020 auf Alexej Nawalny in Deutschland und in der Haft in Russland entstandenen Autobiographie verstört: Nawalnys Größenwahn, seine grotesk übersteigerte Vaterlandsliebe, seine blinden Flecken in der Aufarbeitung der eigenen politischen Vergangenheit, seine Hinwendung zum Christentum im Lager. Doch im gnadenlosen Umgang mit dem Oppositionellen offenbart sich die schäbige russische Diktatur in all ihrer Erbärmlichkeit. Putin zeigt sich in diesem Buch quasi nackt und zur Kenntlichkeit entstellt: wahrlich kein schöner Anblick.
Stand: 17.11.2024 23:42 Uhr
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