Gespräch mit Erdal Yildiz
Was braucht es aus Ihrer Erfahrung, um einen überzeugenden Antagonisten zu erschaffen?
Ein Antagonist lebt durch seinen Charakter. Ich als Schauspieler muss der Figur, die ich spiele, ein Stück weit voraus sein. Ich muss meine eigene persönliche Achillesferse kennen. Meine Figur jedoch, die bedrohlich, gefährlich und gewalttätig handelt, weiß nicht unbedingt, wo ihre Verletzlichkeit liegt. Stattdessen sucht sie diese Wunde in der Verletzbarkeit des Gegenübers, in dem Fall beim Protagonisten. Es gibt den wunderbaren Satz: Der Feind ist die eigene Frage in Gestalt – das trifft es sehr gut.
Im neuen Hamburger "Tatort" verkörpern Sie zum zweiten Mal Firat Astan, den Kopf des mächtigen Verbrecherclans. Was macht das System der Sippe, das die hierarchischen Strukturen und Verhaltensnormen festlegt, so stark wie gefährlich?
Ich kenne mich mit mafiösen Strukturen nicht so aus. Sie wirken auf mich wie Irrgärten, wie eine fremde Stadt. Ich selbst bleibe in einer fremden Stadt erst mal stehen und beobachte den Rhythmus der Menschen um mich herum, um zu verstehen, was diese fremde Stadt ausmacht, wie sie funktioniert. Wenn man sich da hinein begibt, kann es geschehen, dass man die Orientierung verliert und den Ausgang nicht mehr findet. Jemand der innerhalb dieser Strukturen lebt, empfindet das vielleicht gar nicht so. Für ihn ist es kein Labyrinth, sondern wahrscheinlich ein ganz gewöhnliches Leben.
Firat kümmert sich rührend um seinen Bruder, der seit einem Schusswechsel gelähmt auf den Rollstuhl angewiesen ist und mit ihm eine Gefängniszelle teilt. Tritt hier ein menschlicher, versöhnlicher Charakterzug hervor, der Firats böse Seite umso gefährlicher erscheinen lässt?
Wenn ich eine gefährliche brutale Figur spiele, muss ich einen Weg zum Zuschauer finden. Ich muss eine Art Tunnel zum Zuschauer hin öffnen. Und das kann mir nur gelingen, wenn ich in diese Figur ein Herz platziere. Denn dann kann sich der Zuschauer selbst dabei ertappen, dass er für diese Figur etwas empfindet, dass er Verständnis für sie hat. Das macht die Figur am Ende sogar noch bedrohlicher.
Ihre gemeinsame Szene mit Til Schweiger ist ein hoch explosives Kräftemessen, das Vorfreude auf mehr macht. Wie würden sie das Verhältnis dieser beiden Alphatiere beschreiben?
Für die Außenstehenden oder für die Zuschauer ist es ein Kräftemessen, für die beiden Figuren jedoch eine Begegnung im Spiegel. Es ist, als würden sie in einen Spiegel blicken und im Blick auf den Anderen ihr eigenes Gesicht sehen. Stellen Sie sich vor, beide sitzen sich gegenüber und die Kamera fängt an, sie zu umkreisen, immer schneller und schneller. Irgendwann wird das Bild verschwimmen, die Konturen sich auflösen und sie werden nur noch eine Gestalt wahrnehmen. Mein Neffe hat mich mal gefragt, warum er immer wieder, wenn er ausgeht, in eine Prügelei verwickelt wird. Der entscheidende Punkt ist, was würde er tun, wenn er sich nicht in eine Prügelei verwickeln ließe? Er würde zum Anderen hingehen, ihm die Hand reichen und sagen: Hallo ich bin Serkan, wer bist Du? Gewalt ist auch eine Art von Sprache, wie eine Umkehrung dessen, was derjenige nicht sagen kann, weil es vielleicht uncool ist, nämlich – eigentlich finde ich Dich ganz gut.
Als Firat im Gefängnis erfährt, dass die Kugel, die seinen Bruder zum Krüppel machte, nicht, wie bislang geglaubt, von Nick Tschiller abgefeuert wurde, sondern versehentlich aus den eigenen Reihen, lässt er den Schuldigen sofort hinrichten. Überraschenderweise weicht er aber auf der anderen Seite keinen Deut vom Mordbefehl an Nick Tschiller ab, obwohl man das im Sinne eines Ehrenkodex’ vermuten könnte – warum nicht?
Firat muss seine gesellschaftliche Stellung und sein Gesicht wahren, indem er denjenigen, der einen schweren Fehler begangen hat, hinrichtet. Das heißt für ihn selbst, er schafft Klarheit nach Innen. Im Außen muss er das ebenfalls. Würde er seine Meinung ändern und den Mordbefehl an Nick Tschiller aufheben, müsste er zugeben, dass er selbst einen Fehler gemacht hat. Das würde ihn angreifbar machen, seine Autorität untergraben. Um seinen Status zu wahren, muss er das Kopfgeld aufrecht erhalten.
Familie besitzt für die kurdischen Astans einen sehr hohen Stellenwert. Sie selbst sind in der Türkei geboren, wuchsen in Deutschland auf und begannen ihre Schauspielausbildung und -karriere in New York. Was macht aus ihrer Sicht die Idee der Großfamilie aus?
Eine Großfamilie bedeutet Zusammenhalt, ein soziales Netz, das einen auffängt. Sie lernen und erfahren Hilfsbereitschaft und Fürsorge gerade in schweren krisenhaften Situationen – das sind alles Vorteile. Gleichzeitig können dabei Wünsche und Bedürfnisse, die die eigene Persönlichkeit und Individualität betreffen, auf der Strecke bleiben, weil der Gemeinsinn der Großfamilie Priorität hat. Für manche ist das nicht so schwerwiegend – andere versuchen auszubrechen, weil sie ein Gefühl der Enge empfinden, die sie nicht atmen lässt. Eine Großfamilie bedeutet auch eine gewisse Abschirmung und Abgrenzung zur Außenwelt. Man bleibt unter sich, weil die Außenwelt als etwas Fremdes, und damit als bedrohlich empfunden wird. Das kann auch zu einer Art Unmündigkeit führen und die eigene Autonomie schwächen.
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