So., 29.11.20 | 19:20 Uhr
Das Erste
Großbritannien: Der Brexit-Parkplatz in Kent
Es war einmal eine verschlafene kleine Kirche aus dem 13. Jahrhundert, in Kent – dem Garten von England. Mit der Ruhe aber ist es seit dem Brexit vorbei. Nicht nur für die Grabsteine im übrigen, auch für die Anwohner, die vor einigen Wochen ohne jede Vorwarnung von einer ganzen Armee von Baggern überrascht wurden. "Naja, die Laster müssen irgendwo abgefertigt werden zwischen uns und der EU. Und die Regierung hat eben erst vor Kurzem gemerkt, dass 80 Prozent des Verkehrs mit der EU über Dover geht", sagt Liz, grüne Stadträtin von Ashford.
Abfertigung von bis zu 1.700 Lastern pro Tag
Und weil in Dover absolut kein Platz ist, wurden die Felder rund um ihr Dorf geopfert. Eine Fläche von 66 Hektar als Zoll-Platz, wo demnächst pro Tag bis zu 1.700 Laster abgefertigt werden sollen. Liz war gegen den Brexit und weiß jetzt einmal mehr warum: "Aber auch einige Brexiteers bedauern das jetzt. Es hieß ja immer der Handel nach dem Brexit werde völlig problemlos und unsichtbar online abgewickelt."
Stattdessen: Jede Menge Zollpapiere. An der Raststätte um die Ecke steht deshalb jetzt ein Info-Container, der über die zukünftigen Zollbestimmungen aufklären soll. Dem "Weltspiegel" will man darüber nichts verraten: "Wir dürfen ihnen keine Fragen beantworten, wir sind einfach hier um sicherzustellen, dass die Jungs nicht im Stau steckenbleiben." Tatsächlich wissen sie nämlich auch nicht, was wird, und weil die Trucker das ahnen, hält auch kaum einer bei ihnen an: "Wir bekommen überhaupt keine richtigen Informationen, und wenn dann man immer nur häppchenweise. Aber welche Formulare wir am Ende wirklich brauchen, das weiß absolut niemand hier", sagt ein Trucker.
Angst vor Chaos an der Grenze
Peter aus Deutschland hat deshalb längst Nägel mit Köpfen gemacht. Er hat seine vorletzte Fahrt auf die Insel gemacht. "Ich fahr definitiv nicht mehr, wenn dann nur Begegnungsverkehr. Also, dass der Engländer rüberkommt und wir nehmen seinen Aufleger und machen den wieder voll. Aber rüberfahren in dieser Situation? Definitv nicht. Es ist traurig, man verabschiedet sich, das ist ein Abschnitt erstmal." Das Chaos an der Grenze will er sich nicht antun.
Und es dürfte tatsächlich chaotisch werden: Denn es kommt noch eins hinzu: Die Gegend um Ashford ist ein Überschwemmungsgebiet. Je mehr Fläche zubetoniert wird, je mehr kommt das Wasser woanders raus. Das blockiert die Arbeiten ständig. Anwohner wie die Coxheads hätten dem Brexitminister das sagen können, wenn man sie gefragt hätte. Hat aber niemand. "Niemand hat mit uns darüber gesprochen, was für eine Art Boden das hier ist. Sie haben einfach irgendwie angefangen, und alles falsch gemacht, was man machen kann. Und jetzt haben sie angefangen auch sonntags zu arbeiten, um das noch irgendwie hinzukriegen. Aber das wird nie was. Und die Lorries stauen sich dann auf den Straßen hier rundherum. Wenn die Leute jetzt noch mal abstimmen würden, würden sie für die EU stimmen. Aber zu spät."
Denn nochmal abgestimmt wird nunmal nicht, sagt auch der lokale Tory, der gemäß Parteilinie für den Brexit ist, und nun versucht, das seinen Leuten so gut wie möglich zu verkaufen. "Für die kleine Kirche haben wir jetzt eine halbe Million Pfund aus London bekommen, für ein Café, das wir dort aufmachen können und sie werden sogar einen Extra-Parkplatz davor bauen."
Parkplätze gibt es damit bald mehr als genug in diesem Kent, das die Briten einstmals stolz den Garten von England nannten. Und wenn am 1. Januar immer noch nicht klar ist, wo die Reise hingeht, dann wird eben improvisiert. So wie die Baustelle von Ashford wird auch der Brexit zunächst alles zerstören was ist, bevor vielleicht irgendwann einmal Licht ins Dunkel kommt.
Autorin: Annette Dittert, ARD-Studio London
Stand: 29.11.2020 20:16 Uhr
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