»Schon länger hat mich die Frage beschäftigt, warum es eigentlich so gut wie keine Filme gibt, in denen Behinderte als Liebende gezeigt werden, und schon gar keine, in denen die Sexualität Behinderter eine Rolle spielt. Findet diese sexuelle Liebe dann auch noch zwischen einer schwerbehinderten und einer nicht behinderten Person statt, kommen wir schon in den Bereich eines gesellschaftlichen Tabus. Aber weshalb? Wieso sprechen wir Menschen etwas ab, das unser aller elementarster Lebenstrieb ist, nur weil sie körperlich oder seelisch beeinträchtigt sind oder weil sie vermeintlich näher als wir Gesunden am Tode stehen?
Und so trat Jonas auf die Bühne meiner Fantasie, ein 16-jähriger Junge mit einer progressiven, tödlich verlaufenden DuchenneMuskeldystrophie. Ein Teenager, der im Rollstuhl sitzt, dessen Behinderung ihn aber nicht zum Opfer, sondern wütend macht. Er ist wütend darüber, dass er keine Lebensperspektive hat, dass es für ihn statt Liebe, Freiheit, Sexualität allenfalls Mitleid, Fürsorge und einen Nischenplatz in einem viel zu kurzen, extrem eingeschränkten Dasein gibt. Unverhofft trifft Jonas auf Emily, ein Mädchen, das alles zu haben scheint, was Jonas fehlt, ein Mädchen, das beliebt, hübsch, sexy, sportlich, das unerreichbar für einen wie ihn ist. Doch hinter dieser mühsam errichteten Fassade ist Emily ebenfalls ein versehrter Mensch. Die Trennung ihrer Eltern stellt sie vor eine Zerreißprobe und sie leidet wie viele ihrer Generation unter der Überzeugung, unzulänglich, wertlos, eine Versagerin zu sein. Und ähnlich und zugleich anders als Jonas hat sie eine äußerst komplizierte Beziehung zu ihrer Mutter. Dass die beiden Teenager einander in ihrer Einsamkeit verstehen, ist der Beginn einer Liebe, deren Größe von zwei Dingen bedroht wird: von Jonas‘ näher rückendem Tod und von den Widerständen der beiden Mütter gegen diese Liebe.
Ich bin selber Mutter. Und ich bin auch Tochter. Und deshalb weiß ich, wie prägend diese primäre Beziehung für jede weitere Liebe unseres Lebens ist. Wieviel Tiefe und Größe, aber auch wieviel Schmerz in dieser Beziehung liegt. Auf wie elementare Weise sie darüber entscheidet, wie ein junger Mensch in sein eigenes, erwachsenes Leben geht. Deshalb spielen die beiden Mütter, die lernen müssen, ihre Kinder zu akzeptieren, wie sie wirklich sind, die lernen müssen, sie wirklich los zu lassen, wenn sie sie nicht verlieren wollen, eine so zentrale Rolle in dieser Geschichte. Und hier liegt auch mein ganz persönlicher Bezug zu diesem Film.
Ich habe für diesen Film extrem viel und lange recherchiert. Die Begegnung mit verschiedenen Muskeldystrophikern hat mir die Augen dafür geöffnet, wie unfassbar herausfordernd eine solche Erkrankung nicht nur für die Muskelkranken, sondern auch für deren Angehörigen ist. Ich habe nur sehr wenige Familien getroffen, die nicht an den Belastungen zerbrochen sind. Zumeist bleiben die Mütter mit ihren Söhnen zurück (Duchenne können nur Jungs bekommen) und die Krankheit nimmt den alles bestimmenden Raum in deren Leben ein. Mit dieser Krankheit leben zu können braucht aber nicht nur Kraft und Hingabe, sondern auch viel Geld. Ich war schockiert darüber, in welchem Ausmaß diese Familien vom Staat und von den Krankenkassen alleine gelassen werden. Simple Barrierefreiheit reicht für die Erfordernisse eines Muskeldystorphikers nicht aus. Diese Krankheit erfordert spezielle Betten, Badezimmer, Rollstühle, Wohnungszugänge, Autositze etc. Aber die Krankenkassen zahlen nur einen Bruchteil dessen, was ein Muskelkranker für ein Leben in Würde braucht. Die Folge davon ist häufig, dass die Mütter, die wenig Möglichkeiten haben, neben der Pflege ihrer Söhne noch zu arbeiten, sich hoch verschulden und verarmen. Das hat mich schockiert und empört, und den Blick des Publikums auch auf diesen Notstand zu richten, war mir ein Anliegen. Zugleich bin ich aber auch tief berührt von der Akzeptanz, Hingabe und Würde, mit der sehr viele der jungen Duchenne-Patienten ihr Leben meistern. Berührt von ihrer Freude über jeden schmerzfreien Tag, von der Zuversicht, ihren Träumen zu folgen, obwohl ihre Lebenszeit begrenzt ist, von der unglaublich intimen Beziehung zu ihren Müttern, die häufig die Überträgerinnen ihrer Krankheit sind. Viele der Geschichten in der Geschichte von Jonas sind Ereignisse, die meine Recherchepartner erlebt und mir für diesen Film »geschenkt« haben. Ich habe von diesen Söhnen und ihren Müttern viel bekommen und gelernt und empfinde dafür tiefe Dankbarkeit.
Es war uns allen schnell klar, dass es keine Möglichkeit gab, die Rollen der Behinderten in diesem Film mit »echten« Muskeldystrophikern zu besetzen. Denn diese Erkrankung ist so schwerwiegend und häufig auch so schmerzhaft, dass auch nur der Bruchteil eines Drehtages für diese Menschen kräftemäßig nicht zu bewältigen ist. Zugleich verunmöglichen die Bedingungen und Budgets, mit denen wir heutzutage Filme machen, einen Rahmen, in dem an eine Arbeit mit Schwerbehinderten überhaupt nur zu denken ist. Um so dankbarer bin ich, dass ich mit Hilfe meiner Casterin Gwendlyn Clayton die jugendlichen Darsteller:innen gefunden habe, die diese Rollen über eigene Recherche und langes, intensives Proben mit mir so berührend erforscht und gefüllt haben und die zusammen mit den erwachsenen Darsteller:innen das herausragende Ensemble gebildet haben, das das Rückgrat dieses Filmes ist.
Ein Ziel hatte ich bei diesem Film: dass er bei aller Schwere des Themas auch Kraft, Leichtigkeit und Humor hat. Dass uns dies geglückt ist, darauf bin ich stolz.«
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