Gespräch mit Matthias Katsch
„So darf es nicht bleiben, wir müssen etwas dagegen tun!“
Gespräch mit Matthias Katsch über den „Tatort: Schweigen“ und die Gründe, warum die Täter von Kindesmissbrauch in der Kirche ideale Bedingungen vorfanden
Macher und Mitwirkende des „Tatorts: Schweigen“ sprechen von einer großen Verantwortung, die sie gegenüber den Betroffenen gespürt haben. Sind sie ihr gerecht geworden?
Ich finde den Film hervorragend. Es hat mich wirklich beeindruckt, wie es den Filmschaffenden gelungen ist, dieses sehr komplexe Thema zu einer fiktiven Geschichte zu verdichten und auf den Punkt zu bringen. Es ist für mich das Beste, was ich im fiktionalen Fernsehen zu katholischen Missbrauchsskandalen gesehen habe, seit wir im Jahr 2010 das Thema öffentlich gemacht haben. Ich muss gestehen, am Anfang hatte ich die Befürchtung, dass die Geschichte auf ein Rachedrama hinauslaufen könnte. Aber die Opfer suchen in der Regel keine Vergeltung. Ich kenne keinen Fall, in dem ein Opfer an seinem Täter nach Jahren Rache geübt hätte.
Der Krimi greift einen aktuellen Fall aus Trier auf und dessen überdiözesanen Pädosexuellenring, spielt aber auch auf den schweren Missbrauchsfall auf einem Campingplatz in Lügde an. Folgen die kirchlichen Fälle einem anderen Muster?
Ja, ganz klar. Fälle wie in Trier haben sehr stark mit dem kirchlichen System zu tun. In einer 2018 vorgestellten Studie haben Forscher die Personalakten von mehr als 38.000 Priestern in deutschen Bistümern nach 1945 ausgewertet. Sie fanden in fünf Prozent der Akten Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder und arbeiteten ein Muster des Verheimlichens und Vertuschens heraus. Die Täter waren signifikant häufiger im Laufe ihrer Karriere hin und her versetzt worden.
Was macht die Römisch-Katholische Kirche so anfällig für Missbrauch?
Es ist erstens ihre vormoderne Sexualmoral, also ihre Haltung zur menschlichen Sexualität und besonders zur Homosexualität. Zweitens geht es um das innerkirchliche Machtgefälle zwischen geweihten Priestern und den einfachen Gläubigen. Der Respekt vor dem Priester war in den Gemeinden enorm. Drittens sind alle Mächtigen in der Kirche Männer. Frauen haben in der Institution nur eine dienende Funktion. So konnte ein männerbündisches Binnenklima entstehen, Taten wurden leicht unter den Teppich gekehrt. Dann spielt der Zölibat eine Rolle. Übergriffe auf Kinder werden von Priestern, die solche Taten begehen, vor allem als Sünde gegen ihr Versprechen der Ehelosigkeit gesehen – und nicht als das, was sie sind: Gewaltakte. Sünden aber kann man beichten und können vergeben werden. Das bedeutet: Wenn ein Priester eine Frau heiratet, ist er automatisch aus der Kirche ausgeschlossen. Wenn er aber ein Kind missbrauchte, konnte er mit großem Verständnis rechnen. Er wurde versetzt, in Therapie geschickt, man versuchte, ihn zu rehabilitieren, schickte den Mann ins Ausland, wo ihn keiner kannte. Schließlich der fünfte Risikopunkt: Das Sakrament der Beichte diente in vielen Fällen als Einfallstor für Priester, um mit Kindern über Sexualität zu sprechen, in einer Art und Weise, wie wir es sonst niemandem in unserer Gesellschaft erlauben würden. Die oben erwähnte Studie hat gezeigt, dass neben Ministranten besonders Kinder bei ihrer ersten Beichte Gefahr liefen, Opfer von Übergriffen zu werden. Der Beichtstuhl kann also ein Gefährdungsort für Kinder sein, die in eine riskante eins-zu-eins-Situation geraten. Gleichzeitig gehört es zum Selbstverständnis der Kirche, Sünden zu vergeben. Das gilt auch für die Sünde gegen den Zölibat. So war die Beichte auch ein Weg für Priester, sich von ihren Taten reinzuwaschen.
Konnten die Täter davon ausgehen, dass die Kirche sie tendenziell in Schutz nehmen wird?
Die jahrzehntelange Vertuschungskultur der Kirche verschaffte den Tätern die Gewissheit, dass die Institution sie nicht ausliefern würde, egal, was sie getan haben. Insofern fanden die Täter in der Kirche ideale Bedingungen vor.
Im Film kehrt das Opfer Daniel in das Kloster zurück, in dem er als Kind missbraucht wurde. Wie erklärt es sich, dass sich viele Betroffene nicht von der Kirche lossagen können?
Im katholischen Glaubensbekenntnis gibt es den Satz: Ich glaube an die Katholische Kirche. Das bedeutet für die Gläubigen eine starke emotionale Bindung. Vielfach bleiben Betroffene, die ja als Katholiken aufgewachsen sind, auch in ihrem weiteren Leben der Kirche verbunden. Einerseits ist man empört über die Kirche, die einem Furchtbares angetan hat, gleichzeitig kommt man nicht davon los. Viele Opfer wie die Figur Daniel im Film offenbaren diese merkwürdige Bindung an die Kirche, so dass sie immer wieder von der Institution Erklärungen verlangen, die sie für ihre Psychohygiene brauchen: „Warum ist es ausgerechnet mir passiert?“, fragt Daniel. „Sollte ich vielleicht sogar mitverantwortlich sein?“ Für das Opfer heißt das: Zur erlittenen sexuellen Gewalt kommt noch das Schuldgefühl, irgendwie daran mitgewirkt zu haben. Dem Opfer genau das einzureden, ist oft Teil der Täterstrategie.
Wie beurteilen Sie die Figur des Generalvikars? Er schafft Beweise beiseite, um Schaden von der Institution Kirche abzuwenden. Gleichzeitig geht er gegen die Täter in seinem kirchlichen Rahmen vor. Ist er eine tragische Figur?
Ein Mensch handelt schlicht und einfach gewissenlos, wenn er einen Täter vor der Strafverfolgung schützt und ihm so Gelegenheit gibt, weitere Verbrechen zu begehen. In diesem Fall trägt der Generalvikar die Personalverantwortung. Eine Untersuchung über die Bistümer in den 1960er- und 1970er-Jahren hat belegt, dass die Kirche gezielt Priester ins Ausland in Sicherheit gebracht hat, wenn sie in Gefahr standen, von der Staatsanwaltschaft vorgeladen zu werden. Im Film ist der Generalvikar zwischen zwei Loyalitäten hin und her gerissen. Tragisch wäre es dann, wenn er in einen Konflikt geraten würde, den er nicht lösen kann. Hier ist die Lösung eigentlich sehr klar. Der Generalvikar muss sich auf die Seite der Opfer stellen oder seinen Job an den Nagel hängen.
Ist die Kirche aus sich heraus fähig, die Fälle aufzuklären, den Opfern zu helfen und sie für das Leid zu entschädigen? Oder braucht sie Hilfe von außen?
Ich glaube, keine Institution schafft das allein. Was die Kirche zumindest tun könnte, aber bis heute unterlässt, ist, den Schaden wiedergutzumachen, indem man die Opfer angemessen entschädigt. Stattdessen hat die Kirche ein intransparentes Anerkennungssystem installiert, bei dem die Opfer einen Antrag bei der Täterorganisation stellen müssen, die dann nach von ihr festgelegten Kriterien entscheidet, welche Summe sie als Anerkennungsleistung zu zahlen bereit ist.
Sollten auch die Mittäter, die Täters des Vertuschens, zur Verantwortung gezogen werden?
Nach dem Kirchenrecht gilt zwar seit einigen Jahren die Regel, dass Verdachtsfälle untersucht und – wenn sich der Verdacht zu bestätigen scheint – auch bei den weltlichen Autoritäten angezeigt werden soll. Dagegen wurde aber vielfach verstoßen. Juristisch gibt es in Deutschland keine Anzeigepflicht für Vorgesetzte. Wenn ich erfahre, dass mein Untergebener Kinder missbraucht, muss ich ihn nicht anzeigen. Außer ich wüsste, dass er es weiterhin tut. Aber die Täter versprechen natürlich hoch und heilig, es kommt nicht wieder vor. In Ländern wie Frankreich oder Belgien, wo es eine solche Anzeigenpflicht gibt, kommen die Mitwisser nicht so leicht davon. Dort fanden sich schon Bischöfe und sogar Kardinäle vor Gericht wieder, weil ihnen nachgewiesen wurde, dass sie Missbrauchstäter geschützt haben.
Gibt es heute uneingeschränkten Zugang zu den kirchlichen Akten zum Beispiel im Vatikan, die Missbrauchsfälle dokumentieren.? Oder gilt unverändert das „päpstliche Geheimnis“?
Das „päpstliche Geheimnis“ – also die Geheimhaltungspflicht im Falle von innerkirchlichen Ermittlungen gegen einen Priester – gilt seit 2019 nicht mehr absolut. Dennoch ist der Weg zur Transparenz in diesen Fällen noch weit. Nach Aussagen von vatikanischen Mitarbeitern sind die Akten in Tausenden von Fällen in Rom gelandet. Weil die Vatikanstadt als eigener Staat gilt, sind sie dort für keine Staatsanwaltschaft der Welt mehr greifbar. Es gibt aber eine gewisse Mitverantwortung der weltlichen Justiz: Verschiedene Untersuchungen der letzten Jahre, etwa eine Studie im Erzbistum München-Freising, haben gezeigt, dass die Justiz in Deutschland in Fällen von Missbrauch durch Priester gegenüber der Kirche sehr zurückhaltend aufgetreten ist und auch nicht aktiv nach Unterlagen gesucht hat.
Sie wurden für ihre Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Hat sich die Kirche jemals für Ihre Arbeit bedankt?
Nein, wir Aufklärer werden bestenfalls mit Missachtung gestraft. Das einzige Kompliment, das mir die Kirche immer wieder macht, ist ihr offensichtliches Bedürfnis, mir aus dem Weg zu gehen. Doch es ist nicht unser Interesse, dass die Kirchenleute uns ständig auf die Schulter klopfen und sagen „toll gemacht“, sondern dass sie endlich zu ihrer Verantwortung stehen, die Opfer angemessen entschädigen, die Akten für eine unabhängige Aufarbeitung zugänglich machen und Betroffeneninitiativen unterstützen.
Im Film wird die Kirche mit einer Mafia-Organisation verglichen: straff geführt, nach außen abgeschottet, nur ihren eigenen Regeln folgend. Ist an diesem Vergleich etwas dran?
Auch ich habe das Wort Mafia einmal in einem Artikel verwendet. Ich wollte damit aber nicht sagen, dass in der Kirche alle Verbrecher sind. Aber wenn ich eine Institution vor mir habe, die systematisch Verbrecher vor den Folgen ihrer Taten schützt und die dabei alle Machtmittel ausnutzt, politische wie finanzielle, dann fällt mir keine andere Analogie ein.
Was erhoffen Sie sich von der Ausstrahlung des „Tatorts: Schweigen“?
Wir haben 2010 mit der Gründung der Initiative „Eckiger Tisch“ ein kleines Steinchen ins Wasser geworfen, und ich staune heute noch, an welchen fernen Küsten die Wellen angeschlagen haben. Ich hoffe, dass der Film Betroffenen und deren Angehörigen Mut macht oder sie veranlasst, sich Unterstützung zu suchen, um nicht allein damit zu bleiben. Die Erwartung, dass die Amtskirche reagiert, habe ich leider nicht mehr. Aber vielleicht lassen sich die Gläubigen motivieren, sich einzumischen: So darf es nicht bleiben, wir müssen etwas dagegen tun!
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